Kurzer Auszug aus den Unterweisungen im Rahmen des Retreats ãKlar sehen – in WŸrde handelnÒ, gehalten von James Low vom 3. – 5. Juni 2016 in Todtmoos, Deutschland.

 

Transkribiert von Vera Neuroth, redigiert von James Low.

Das Video ist hier bei https://Vimeo.Com/171898621 zusah.

 

 

Zu Beginn mšchte ich etwas Ÿber CR Lama erzŠhlen.

 

Als ich ihn kennenlernte, arbeitete Rinpoche an der Visva Bharati UnitersitŠt in Westbengalen und lebte mit seiner Frau und fŸnf Kindern in einem kleinen Haus, das ihm die UniversitŠt zur VerfŸgung stellte. Die Familie hatte einen nepalesischen Diener, der beim Kochen half. Ich bewohnte etwa sieben Jahre lang ein kleines Zimmer im hinteren Teil dieses Hauses.

 

Rinpoches Aufgabe an der UniversitŠt war es, indischen Wissenschaftlern dabei zu helfen, frŸhe Texte in Bengali und Hindi zu rekonstruieren, indem er sie aus dem Tibetischen rŸckŸbersetzte. Zur Zeit der berŸhmten indisch-buddhistischen Tantra-Meister wie Tilopa und Saraha fand im Norden Indiens ein †bergang von den Sprachen des Prakrit, einer spŠten Variante des Sanskrit, in frŸhe Formen von Bengali, Hindi, und Gujarati etc. statt. Die meisten der alten Manuskripte, die in Indien aufbewahrt wurden, waren verloren gegangen oder von Insekten bzw. vom Klima zerstšrt worden. Viele wichtige Werke jedoch existierten in tibetischen †bersetzungen und hatten in Tibet Ÿberlebt.  Indem er diese Texte aus dem Tibetischen in frŸhe Formen des Hindi und Bengali rŸckŸbersetzte, und nicht zuletzt auf Grund seiner umfassenden Kenntnis des gesamten Schrifttums, war CR Lama in der Lage, den indischen Wissenschaftlern zu helfen, etliche dieser alten Sprachformen zumindest teilweise zu rekonstruieren.

 

Diese Arbeit kam ihm sehr entgegen, da er zu der Sorte von Akademikern gehšrte, die nicht gerne unterrichtet – in der Tat lautete der Titel seiner Position ãReader in Indo-Tibetan Studies.Ò[1] SpŠter reiste er auch hŠufig nach Europa, aber er gab so gut wie nie formellen Unterricht; zumeist kommunizierte er mittels der †berzeugungskraft seiner rituellen Praxis. Ich hatte das gro§e GlŸck, dass er zu dem Zeitpunkt, als ich ihn kennenlernte, bereit war, mir beim Erlernen des Tibetisch und bei meinen ersten †bersetzungen von Texten aus dem Tibetischen zu helfen. Solange die Arbeit sich auf Texte konzentrierte, war er sehr hilfreich. Aber wenn ich ihm direkte Fragen stellte, antwortete er mit einem Scherz oder wandte sich ab. Ich habe keine Ahnung, warum er sich so verhielt – aber so war er eben.

 

Wir haben zahlreiche Texte gemeinsam Ÿbersetzt und manchmal, gegen Ende meines Aufenthalts in Indien, erzŠhlte Rinpoche mir von seinem frŸheren Leben in einem Kloster und von seiner Ausbildung.

 

Die ersten beiden Kapitel des Buches[2] behandeln die Geschichte der Nyingma, im Speziellen die Sichtweise des Dzogchen; darauf folgt eine Reihe von Themen wie z.B. das Bardo, und gegen Ende des Buches gibt es ein Kapitel, in dem das Leben in seinem Kloster eingehender beschrieben wird.

 

Rinpoche war ein Yogi durch und durch – sehr prŠsent und sehr prŠzise in allem, was er tat. Er lie§ keinerlei Zweifel daran: wer sich nicht 100% an ihn anpasste, hatte keine Chance. Seine Herangehensweise war sehr traditionell – er glich einem Ballett-Lehrer der alten Schule: ãIch erklŠre es ein Mal, ich zeige es vor und wenn du es nicht so machst, fliegst du raus.Ò Die AtmosphŠre war sehr intensiv; aber das fŸhrte dazu, dass wir viele Texte gemeinsam Ÿbersetzten, von denen etliche in ãSimply BeingÒ[3] und in meinen anderen BŸchern veršffentlicht wurden. C R Lama war Šu§erst intelligent und sehr fokussiert; deshalb bin ich Ÿberzeugt davon, dass die †bersetzungen sehr prŠzise sind.

 

Eines der Kapitel am Ende des Buches besteht aus der Ÿberarbeiteten Mitschrift eines Vortrags, in dem Rinpoche Ÿber den Unterricht in seinem Kloster erzŠhlt. Meiner Meinung nach ist es die sehr anschauliche Schilderung eines Bildungssystems, das ausschlie§lich auf Wissbegierde beruht. Zu bestimmten Zeiten im Jahr gaben Šltere Mšnche Unterweisungen. Sie unterrichteten die Dinge, die ihnen am Herzen lagen und die Menschen besuchten ihre VortrŠge, weil sie sie hšren wollten – es gab keinerlei Zwang oder Verpflichtung. Man konnte mitmachen oder auch nicht. Alle, die teilnahmen, waren gekommen, weil sie dabei sein wollten. Man konnte sich jedes Jahr ErlŠuterungen zu denselben Textstellen anhšren – auch vierzig Jahre lang – weil der Buddha-Dharma in seiner Tiefe und in seinem Reichtum unerschšpflich ist. Die ErklŠrungen variieren ein wenig von Jahr zu Jahr – und auch unsere FŠhigkeit, die Dinge aufzunehmen und zu verarbeiten, ist jedes Jahr ein wenig unterschiedlich.

 

Der Unterricht im Kloster, der vom Khenpo, dem ranghšchsten Gelehrten, und den Šlteren Mšnchen gehalten wurde, stand ganz im Dienste des Textes, d.h. die Vortragenden bemŸhten sich darum, ihn allen, die lernen wollten, so umfassend wie mšglich zu erlŠutern. Sie unterrichteten zwšlf Stunden am Tag und alle Anwesenden, sowohl Lehrer als auch Zuhšrer, mussten ihre fokussierte Aufmerksamkeit und Konzentration aufrecht erhalten. Die Unterweisung wurde so lange fortgesetzt, bis der zentrale Punkt abgeschlossen war.  Auf diese Weise boten einige wenige Monate pro Jahr das gleiche Arbeitspensum wie zwei Jahre an einer modernen UniversitŠt.

 

Es mag heute vielleicht so scheinen, als wŠren diese ErlŠuterungen zu langatmig. In modernen Kulturen wird auf andere Weise unterrichtet und es fehlt uns oft an der FŠhigkeit, uns auf komplexe Themen zu fokussieren und unsere Aufmerksamkeit so lange aufrecht zu erhalten, bis wir Klarheit erlangen. Es gibt andere buddhistische Traditionen wie beispielsweise Zen, in denen sehr wenig erklŠrt wird. Aber in der tibetischen Tradition ist die Sichtweise, die Art und Weise, wie wir ein Thema betrachten, von grš§ter Wichtigkeit. Was wir tun, hŠngt davon ab, wie wir die Welt sehen.

 

Wenn wir beispielsweise etwas Ÿber mšgliche Systeme der Selbst-Sabotage erfahren, kšnnen wir uns daran machen, die Irrwege zu identifizieren, auf denen wir uns verlaufen. Wir mŸssen erst die Struktur wahrnehmen, in der wir uns verheddern, bevor wir versuchen kšnnen, uns zu verŠndern. Je schneller es uns gelingt, ein problematisches Verhaltensmuster, aus dem wir ausbrechen wollen, zu erkennen, desto leichter fŠllt es, uns daraus zu befreien. Ein sehr klares und prŠzises VerstŠndnis der buddhistischen Begriffe gibt uns eine sichere Mšglichkeit an die Hand, zu diagnostizieren, was wir selber im Schilde fŸhren.

 

Der Pfad des Dzogchen besteht fast zur GŠnze darin, unsere eigene Falschheit, unsere KŸnstlichkeit zu erkennen – und darin, zu sehen, wie sich diese Muster auflšsen, sobald wir aufhšren, sie am Leben zu erhalten und uns mit ihnen zu identifizieren. Es geht nicht darum, bestimmte FŠhigkeiten zu trainieren oder ein neues Selbst zu entwickeln, sondern darum wahrzunehmen, uns zu entspannen und die Knoten sich selbst entwirren zu lassen.

 

Dazu ist es hilfreich, zu erkennen, wie diese Knoten geknŸpft sind. Als ich ein Teenager war, ging ich eine Zeitlang auf eine Segelschule, wo wir lernten, ganz viele verschiedene Knoten zu binden. Wir mussten sehr genau beobachten, was ein alter Seemann ganz rasch mit seinen HŠnden vorfŸhrte. Wenn man einmal gesehen hat, wie so ein Knoten zustande kommt, erkennt man auch, wie man das Seil wieder lšsen kann. Meditation erlaubt uns, diesen Raum in unserem Inneren zu entdecken, in dem sich ineinander verschlungene Muster von selbst entwirren.

 

Ohne die GŸte und Gro§zŸgigkeit von C R Lama hŠtte ich die Dinge nicht gelernt, die ich heute unterrichte. Seine Gro§zŸgigkeit und mein Wissensdurst trafen aufeinander – so wurde der Dharma immer schon von Generation zu Generation Ÿber die Jahre hin weitergegeben. C R Lama prŠsentierte den Dharma auf ganz offene Weise;  er sagte hŠufig: ãEs gibt keine Geheimnisse. Nichts ist verborgen oder etwas Besonderes.Ò Alles ist zugŠnglich. Aber es ist nur dann zugŠnglich, wenn auch wir zugŠnglich sind.

 

Das bedeutet: es ist sehr wichtig zu lernen, wie man lernt. Es gehšrt zum Lernen dazu, der PrŠsentation aufmerksam zu folgen und infolge dessen den Unterschied zwischen diesem Muster und unseren eigenen aktuellen Mustern wahrzunehmen. Wir mŸssen ganz einfach sein, ganz direkt und ehrlich im Hinblick auf unsere Verlorenheit; und das bedeutet: wir mŸssen uns von Schuld und SchamgefŸhlen befreien, weil das die Eigenschaften sind, die uns dazu verleiten, uns zu verschlie§en.



[1] Auf deutsch etwa: Dozent fŸr Indo-Tibetischen Studien

[2] Collected Works of C R Lama [2013, ISBN 978-0956923929]

[3] ãSimply BeingÒ [2010, ISBN 978-1907571015]